Trommeln macht Schule von Alexandra Senfft, Buchautorin und Publizistin
In einem der Klassenräume im Münchner »Sonderpädagogischen Förderzentrum am Westpark« herrscht heute Unruhe: Besuch ist da, darunter ein Photograph, der die Schüler in der kommenden Doppelstunde ablichten will. Auf dem Nachmittagsplan steht »TrommelPower gegen Gewalt«, ein musikalisches Konzept für soziale Integration und Gewaltprävention. Entwickelt hat es der Musiktherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Dr. Andreas Wölfl, der das Institut für Musiktherapie am Freien Musikzentrum leitet. Mit Musik und Bewegung, so erlebte er es in seiner jahrzehntelangen klinischen Arbeit, fand er zu sozial auffälligen und aggressiven Jugendlichen einfacher Zugang. Er integrierte musikalische Elemente im therapeutischen Kontakt mit seinen Patienten. »Es erschien mir dabei wichtig, nahe an den individuellen Persönlichkeiten und Interessen der Jugendlichen zu arbeiten, um weiterzukommen«, so Wölfl. Da die Erfolge ihn bestärkten, floss sein Ansatz der gewaltpräventiven Wirkung von Musik zunehmend auch in die Arbeit des Freien Musikzentrums ein. Zwischen 2009 und 2012 fanden dazu Pilotstudien an zwei bayerischen Mittelschulen statt, unter anderem ermöglicht durch Fördergelder der Castringius- und der IKEA Stiftung sowie der Musikstiftung Barbara Weidinger. Das innovative Präventionsprojekt bekam durch diese empirischen Untersuchungen ein wissenschaftlich untermauertes, konzeptionelles Fundament. Mit den KollegInnen am Institut für Musiktherapie erarbeitete Wölfl anschließend ein Programm, das unter der Schirmherrschaft von Christian Ude zu der Zeit Münchens Oberbürgermeister mittlerweile an Gymnasien, Mittel- und Förderschulen im Inund Ausland zur Wirkung kommt. Aggressionspotenzial abbauen Im Münchner Förderzentrum am Westpark steht »TrommelPower« seit vergangenem Herbst auf dem Lehrplan. Im Zuge der gebundenen Ganztagsschule stellte die Regierung von Oberbayern der Schule zusätzliche Lehrerstunden und finanzielle Mittel zur Verfügung, sodass Sonderschulrektorin Beate Herberich auch lehrplanergänzende Schwerpunkte in den Unterricht integrieren konnte. Neben sportlichen Angeboten kam somit die Musik dazu. Herberich ist zufrieden: »Viele unserer Schüler kommen aus belasteten Lebenssituationen mit Aggressionspotenzial.« Durch »TrommelPower gegen Gewalt« lässt sich im Unterricht einiges davon kanalisieren. Die engagierte Schulleiterin betont, dass ihre Schule besonderen Wert darauf lege, die Beziehungsfähigkeit der Schüler zu fördern. Der pädagogische TrommelPower-Ansatz eigne sich dazu hervorragend. Ihre Schule liegt damit ganz im Trend auch Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, sagt in einem Forschungsbericht über Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen: »Ansatzpunkte für eine wirkungsvolle Prävention von Jugendgewalt bieten etwa Projekte zur Früherkennung und Verhinderung innerfamiliärer Gewalt und zur Vorbeugung von Schuleschwänzen oder die Einrichtung von Ganztagsschulen, die nachmittags einem Motto verpflichtet sind: Lust auf Leben wecken durch Sport, Musik und soziales Lernen.« Die gewaltpräventive Wirkung aktiven Musizierens wird überdies von verschiedenen Studien einstimmig nachgewiesen. Das Motto lautet »Rücksicht nehmen« Klassenlehrerin Gerhild Heyde und Musiktherapeutin Henrike Roisch bitten die Schülerinnen und Schüler, die Instrumente herauszuholen und sich einen Platz zu suchen. Auf einer Pinnwand stehen die Regeln für den Unterricht: Jemanden auszulachen, anzuschreien, zu beleidigen oder gar zu schlagen ist tabu, das Motto lautet »Rücksicht nehmen«. Auf der Liste der Leitsätze sticht »Wann sage ich ›Stopp‹?« heraus es wird sich rasch herausstellen, warum. Endlich sitzen die 13 Schüler im Alter von 11 bis 14 Jahren im Kreis, jeder eine afrikanische Trommel vor sich, die den meisten bis zu den Knien reicht. Nachdem Ruhe eingetreten ist, beginnen sie, angeleitet von Henrike Roisch, zu trommeln einige zaghaft, sachte, andere schwungvoll und energisch. Es entwickelt sich ein dynamisches Zusammenspiel: Trommelhagel schwillt an wie ein sich mit Luft füllender Luftballon, erfüllt den Raum mit Klang und bricht abrupt ab, als einer der Schüler »Stopp!« ruft. Stille. Dann ist eine Schülerin an der Reihe, den Trommelwirbel zu initiieren und an einem von ihr gewählten Punkt mit »Stopp!« zu beenden. Im übertragenen Sinne simulieren die Jugendlichen mit dieser Übung einen sich aufbauenden Konflikt und lernen diesem ein Ende zu setzen. Geschult wird dabei ihre Wahrnehmung für die Mitschüler, denn sie merken, was es bedeutet, die Grenzen der anderen zu respektieren und nicht zuletzt sich selbst durch Abgrenzung zu schützen. In unterschiedlichen Rollenspielen an den Trommeln inszenieren die Jugendlichen mit den Musiktherapeuten Alltagssituationen meist haben die von ihnen vorgebrachten Themen mit Problemen an der Schule zu tun. Bei getrommelten »Streitgesprächen« können so zum Beispiel Szenen von Mobbing oder Ausgrenzung behandelt und reflektiert werden, deren Aufarbeitung verbal oft eher schwierig wäre. Die nonverbale Kraft der Musik nutzen »Musik kann Menschen auf der nonverbalen Ebene erreichen«, sagt Andreas Wölfl. »Sie bietet den Jugendlichen eine ganz neue Ebene, die nicht mit Vorurteilen belastet ist. Das erleichtert es den jungen Leuten, insbesondere den schüchternen, sich zu trauen und in die Gruppe einzubringen.« Für den promovierten Musiktherapeuten ist entscheidend, »dass sie aufeinander hören, beim Musizieren in Kontakt miteinander treten und sich abstimmen. Dadurch lernen sie, ihre Affekte zu regulieren und zu kontrollieren, ihre Beziehungs- und Empathie-Fähigkeiten wachsen. Zudem entstehen bei der musikalischen Auseinandersetzung mit Gewalt- und Konfliktthemen gewisse Verfremdungseffekte, die eine emotionale Distanzierung ermöglichen und die kreative Erarbeitung konstruktiver Lösungen erleichtern.« Gerade ist Wölfls Buch »Gewaltprävention mit Musik: Empirische Wirkungsanalyse eines musiktherapeutischen Projektmodells « erschienen, in dem er sein Konzept vorstellt. Jetzt kommen in der Klasse neue Instrumente ins Spiel: Gitarre, Klangfrosch, Xylophon und Glocken. »Wer will dirigieren?«, fragt Henrike Roisch, und schon steht einer der Jugendlichen in der Mitte des Kreises und gibt Anfang, Lautstärke und Ende der Improvisation vor. Es zeigt sich bei der entstehenden Dynamik rasch, welche Kinder selbstbewusst, zurückhaltend, still oder temperamentvoll sind und vor allem, wie die Gruppe interagiert. Peter Uffelmann, der als Leiter des Competto Bildungsmanagement an der Durchführung der Pilotstudien beteiligt war, ist von der sozialen Wirkung des Projekts überzeugt: »Die Stärke des TrommelPowerns ist die Wechselwirkung zwischen der Schulung sozialer Verbundenheit einerseits und der Stärkung der Persönlichkeit andererseits: Individualität und Gemeinsinn beides wird gefördert. Die Beteiligten entdecken ihre Fähigkeiten, ja vielleicht sogar Begabungen, und bringen sich zugleich in einen sozialen Prozess ein.« Für Uffelmann liegt genau hier der therapeutische Effekt: die Erfahrung, dass individuelle Stärke aus der Ressource kollektiver Handlungen erwächst: »Es geht nicht primär darum, präventiv Gewalt zu vermeiden, sondern vielmehr darum, soziale Kompetenzen zu vermitteln«, so der Coach, Trainer und Supervisor. Entgegen dem Zeitgeist von Selbstoptimierung sieht er hier große Chancen, Schülern einer Klasse spielerisch beizubringen, zusammenzuhalten und zu kooperieren, anstatt im ständigen Wettbewerb miteinander zu stehen. »Musik ist eine universelle Sprache. Positiv eingesetzt, kann sie in der Gruppe und in der Gesellschaft integrativ und identitätsstiftend wirken welchen sozialen, ethnischen oder religiösen Hintergrund jemand mitbringt, ist dann nicht mehr wichtig, da jeder mit seinen Stärken und Schwächen in den sozialen Prozess eingebunden ist. Das nenne ich soziales Empowerment!«, so Uffelmann. TrommelPower ist soziales Empowerment Dass die meisten Schüler von Gerhild Heydes Klasse einen Migrationshintergrund haben, tritt beim TrommelPower- Unterricht vollkommen in den Hintergrund, kulturelle Unterschiede scheinen nicht zu existieren alle bringen sich gemäß ihrem Wesen in den gruppendynamischen Prozess 6 ein. Das Zauberwort »Stopp!« will nun allerdings nicht mehr richtig greifen. Einige der Jugendlichen haben sich zunehmend von der Anwesenheit der externen Besucher ablenken lassen. Unter Beobachtung der Kamera verspüren sie innerlich einen Leistungsdruck; es irritiert sie, dass etwas von ihnen erwartet wird, ihre Unsicherheit zeigt sich an Übersprunghandlungen. Die übliche Leichtigkeit ist verflogen und mit ihr die Konzentration. »Die Situation hat einige überfordert«, sagt Henrike Roisch. Die Musiktherapeutin und Soziologin weiß, dass das neunmonatige Projekt hier an dieser Schule von Höhen und Tiefen begleitet ist: »Das ist ein emotionaler und kognitiver Lernprozess, bei dem Spannungen und schwierige Momente nicht ausbleiben können. Gerade in der Auseinandersetzung liegen ja die Herausforderung und die Chance, Konflikte zu lösen«, so die 48-Jährige, die im Freien Musikzentrum zur Musiktherapeutin und von Andreas Wölfl zur Trainerin für TrommelPower ausgebildet worden ist. Roisch und Heyde sind jetzt stark gefragt, denn das wachsende Gekaspere und Gestöre einiger Schüler hat zum Streit in der Gruppe geführt. Ein Mädchen verlässt enerviert kurzzeitig den Raum. Nun ist es an der Musiktherapeutin, energisch »Stopp!« zu rufen. Ernst weist sie einige Schüler darauf hin, dass sie Regeln auf der Pinnwand gebrochen haben. »Fändet ihr es nicht schade, wenn unsere TrommelPowerstunde in dieser Woche so wenig konstruktiv endete und wir alle frustriert nach Hause gingen?«, fragt Roisch und schlägt dann vor, das »Reaktionsspiel« zu spielen, um den Nachmittag gut abzuschließen. Der Punkt ist angekommen, die Jugendlichen lassen sich darauf ein: Bei einem Schlag auf die Trommel ist die Person zur Rechten in der Runde dran, bei zwei Schlägen die zur Linken. Wer wie oft schlägt, entscheidet jeder selbst, wer falsch reagiert, ist aus dem Spiel raus. Nun sausen die Hände über die Trommeln, immer wieder wechselt die Richtung. Die Konzentration ist trotz eines langen Schultages voll zurück, und gerade einer der Jungen, die am meisten gestört haben, zeigt ein besonderes Talent, auf die Anzahl der Schläge sehr schnell zu reagieren. Mehrmals wollen die Kids das intensive Zusammenspiel wiederholen, und plötzlich ist der Unterricht wie im Nu verflogen. Der Klangfrosch geht jetzt im Kreis herum, die Schüler sollen sagen, was für sie heute gut war und was sie beim nächsten Mal verbessern wollen: Tatsächlich reflektieren sie über den vorherigen Vorfall und erkennen eigene Fehler. Schließlich trennen sie sich in gutem Einvernehmen. Anerkennung ist ein Schlüsselwort für sozialen Frieden Im Sommer endet »TrommelPower« am Förderzentrum am Westpark. Das Projekt ist grundsätzlich darauf aufgebaut, dass nach der einführenden Phase das Thema Gewalt in der Klasse in den Mittelpunkt rückt. Als Höhepunkt des gemeinsamen Prozesses steht dann eine Aufführung mit Werkstattcharakter auf dem Plan. Somit sind die Schüler am Westpark in den kommenden Wochen auch damit beschäftigt, ihre Performance vorzubereiten. Dabei werden sie Szenen improvisieren, deren Inhalte sie selbst bestimmen. »Bei der Abschlussaufführung ist das Ziel, dass die Jugendlichen zu sich selbst stehen und das auch zeigen können«, sagt Institutsund Projektleiter Andreas Wölfl. In der Regel gehen sie gestärkt und selbstbewusster aus dem Prozess hervor, denn sie haben nicht nur gemeinsam etwas erarbeitet, sondern erfahren darüber Anerkennung. Kriminologen wissen, dass gerade mangelnde Anerkennung in einer auf Desintegration ausgerichteten Gesellschaft zu Gewalt führen kann. Dass »TrommelPower « hier präventiv viel leisten kann, ist wissenschaftlich nachgewiesen. Darüber hinaus macht das Projekt Jugendliche mit der Kraft der Musik zu stärkeren Persönlichkeiten zu ihrem und dem Wohle der Gesellschaft. © Photos: Volker Rebhan |